Wie die Shoah in den Gegenwarten von Erziehung und Bildung nachwirkt

verschwommene Stadt Shoah

Gastbeitrag von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai, Herausgeberinnen von Die Shoah in Bildung und Erziehung heute. Weitergaben und Wirkungen in Gegenwartsverhältnissen

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Wie sich die Geschichte im Alltag von Bildungs- und Erziehungsverhältnissen bemerkbar macht, ist oft nicht ganz greifbar. Wie wird Geschichte tradiert? Wie vollziehen sich divergente historisch-biografische Erfahrungen in den Konstellationen von institutionalisierten Bildungs- und Erziehungsverhältnissen und welche Rolle hat darin die (nicht) aufgearbeitete, (nicht) bewältigte (nationalsozialistische) Vergangenheit? Das Bewusstsein für unliebsame Vergangenheiten ist nie von selbst gegeben – ohne die praktizierte Erinnerung verschwindet die Erkenntnis, denn diese ist auf ein Gedächtnis angewiesen. Wird die Geschichte nicht erzählerisch, textlich, filmisch und literarisch vermittelt und nicht zur Gegenwart in Beziehung gesetzt, dann wird sie von uns nicht als bedeutsam eingeordnet, nicht als Teil des Eigenen rezipiert.

 

Geschichte ist identitätsbildend

Geschichte ist dennoch sinnstiftend und identitätsbildend. An alltäglichen Orten, in Familien und in Institutionen der öffentlichen und privaten Bildung und Erziehung werden Geschichtsbilder, aber auch Gefühle und Erwartungen implizit und explizit vermittelt. Auf diese Weise aktualisieren sich Deutungen und Praktiken im Umgang mit der Geschichte fortlaufend und wirken in die informelle familiäre Erziehung, zwischenmenschlichen Beziehungen, in schulischen und außerschulischen Bildungssettings, oder in die universitäre Lehre. Gleichwohl lässt sich im postnationalsozialistischen Deutschland eine Dissonanz feststellen zwischen der öffentlichen Erinnerungspraxis und familienbiografischen Verarbeitung. Der Begriff der Dissonanz beschreibt in diesem Zusammenhang, wie nationale Selbstbilder einer erfolgreichen Aufarbeitung der Verbrechensgeschichte und der Verantwortungsübernahme im Widerspruch zu innerfamiliären Schuldabwehr-Erzählungen entfalten. In Letzteren werden gerade keine Mitverantwortung vermittelt, sondern das Nicht-Wissen perpetuiert und eigene, oftmals familienbezogene Opfergeschichten hergestellt und verteidigt.

 

Gefühlserbschaften und transgenerationales Trauma

Als vergangen geglaubte Ereignisse bekommen aber erst dann eine Relevanz, wenn sie im kommunikativen Gedächtnis angelegt und in der kollektiven Erinnerung mitbedacht, gewürdigt und gespeichert werden. Ob bestimmte Ereignisse als vergangen geglaubt werden, hängt aber von der Bereitschaft einer Gesellschaft ab, den Prozess der Vermittlung durch feste Formate der kulturellen Wissensproduktion und Wissensweitergabe zu sichern. Gleichwohl drohen unerwünschte Ereignisse in komprimierter, in bereinigter Form erinnert und auf diesem Wege wegarchiviert werden. Sind die zentralen Erzählungen der Einzelnen, oder einer Gemeinschaft belastet oder be-schwiegen, werden diese durch die Nachkommen generationsübergreifend als irritierend, brüchig oder gar traumatisch erlebt. Hier trifft die These der (emotionalen) Erbschaft auf die These eines gesellschaftlichen Nachlasses, als Indiz einer engen Verbindung zwischen Privatem und Gesellschaftlichen, in einer stets reziproken Beziehung zueinander.

Dass Kriege und Genozide bei den Überlebenden lange nachwirken, ist inzwischen allgemein bekannt. Dabei werden nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Kollektive durch solche Ereignisse tief und generationsübergreifend geprägt. Mit kollektiver Gewalt werden Grenzen einer einzelnen Biografie weitgehend überschritten – die erinnerungspolitischen Paradigmen nehmen Einfluss darauf, wie die Einzelnen mit dem historischen Nachlass umgehen. Dabei kommt es zu einer dauerhaften Asymmetrie, da die Nachkommen von Nicht-Verfolgten ein anders Gedächtnis haben als die Nachkommen der verfolgten, entrechteten und ermordeten Angehörigen. Für Menschen, die von dieser Vergangenheit aufgrund der damals gegen sie oder ihre Gemeinschaft gerichteten Gewalt existenziell betroffen waren, stellt sich jedoch die Vergegenwärtigung der Geschichte als eine unfreiwillige Anforderung dar. Auch wenn sich solche Differenzen in zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen oftmals überbrücken lassen, darf der Einfluss der kollektiven Gewaltgeschichte nicht wegimaginiert werden.

 

Aneignung und Vermittlung in pädagogischen Beziehungen

Auch wenn die Geschichte des Nationalsozialismus inzwischen gut erforscht ist, sind die Wechselwirkungen zwischen der Sozialisation von Pädagog:innen und der Vermittlung und Bearbeitung der Geschichte in den verschiedenen Settings von Erziehung und Bildung inklusive der damit befassten Disziplinen vergleichsweise wenig untersucht. Ferner stehen das immaterielle Erbe des Gewaltverbrechens und die damit verwobenen Emotionen und Beziehungen nicht im Zentrum der Bildung und Erziehung.

In der Vermittlung und Aneignung der Geschichte der Shoah verschränken sich aber gesellschaftliche, biografische und emotionale Dimensionen. Zugehörigkeiten verdichten sich zu Kollektiven von Täter:innen, Nicht-Verfolgten, Opfern und Überlebenden sowie vielen anderen, die in diese spezifische Geschichte nicht biografisch, aber dennoch gesellschaftlich eingebunden sind. Viele Pädagog:innen in Deutschland stehen zum Nationalsozialismus und der Shoah dennoch in einem familienbiografischen Bezug und sind zugleich gefordert, biografische Bezüge und Emotionen von ihren Schüler:innen zu beachten, die in unterschiedliche Perspektiven und Zugänge zur Geschichte einsozialisiert wurden. Aktuelle Studien zeigen, dass Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und Pädagog:innen in ihrem Studium oftmals keinen Raum für eine explizite Thematisierung der Wirkungsgeschichte  des Nationalsozialismus und der Shoah angeboten bekommen. Zugleich verweisen Pädagog:innen auf die hohen Herausforderungen in der Vermittlung historischer Inhalte, die sie oft ohne eine vorausgegangene Bearbeitung ihrer eigenen familienbiografischen und emotionalen Verbindungen zum Thema leisten müssen. Die schulische Vermittlung der Shoah zeigt sich deshalb für alle Beteiligten als tief verunsicherndes Thema, dass Abwehr und Aggression hervorrufen kann. Dabei geraten die Erfahrungen und Perspektiven von Nachkommen der Überlebenden, wie jüdische Schüler:innen und ihre Angehörigen, aus dem Blick. Viele von ihnen berichten von Verletzungen und zunehmend auch von Antisemitismuserfahrungen im Kontext der Geschichtsvermittlung.

 

Nicht-Thematisierung und Abwehr von Reflexion in den Sozial- und Bildungswissenschaften

Nicht nur in der Lehre an den Hochschulen, auch in der Forschung dominiert bislang eine nur punktuelle statt einer systematischen Beachtung der Gegenwartsbedeutung der genozidalen Geschichte sowie der personellen und institutionellen Involviertheit der wissenschaftlichen Disziplinen in den Nationalsozialismus und dessen (Nicht-)Aufarbeitung. Die soziologischen wie auch erziehungswissenschaftlichen Disziplinen haben sich damit lange nur zögernd befasst. Während in der Geschichtswissenschaft zumindest Einigkeit darüber bestand, dass die Ereignisse des Holocaust rekonstruiert werden müssen, wurden der Soziologie und der Erziehungswissenschaft in den Jahrzehnten nach dem Krieg – mit wenigen Ausnahmen – nicht nur die Erklärungsversuche, sondern gleich die ganze Forschung über ihre Rolle in der Shoah erspart. Wohl auch infolgedessen ist die Shoah in gegenwärtigen Debatten um Bildung und Erziehung kaum präsent. Gerade für die Erziehungswissenschaft, die sich als Disziplin mit generationalen Ordnungen und Beziehungen befasst, scheint die individuelle und gesellschaftliche Perspektive auf die Wirkung der Gewaltgeschichte ein relevantes und naheliegendes Thema.

 

Nachgeschichte der Shoah in Bildung und Erziehung

Die Geschichte der Shoah bleibt präsent im sozialen und kulturellen Gedächtnis der jüdischen Gemeinschaft und ist ebenfalls Teil der sozialen und kulturellen Identität der deutschen Gesellschaft. Durch die Nicht-Beachtung ihrer Nachgeschichte in den Verhältnissen und Beziehungen von Bildung und Erziehung bleiben die damit verbundenen Fragen unbeantwortet und die Irritationen, Verteidigungserzählungen und vor allem auch die Gefühle diffus und unversprachlicht.  Es ist daher mehr als sinnvoll, die Reflexion der je eigenen Zugänge und Verbindungen zur Geschichte als die Basis einer jeden Beschäftigung mit Geschichte zu betrachten und die bisherigen expliziten wie auch impliziten Vermittlungsformen kritisch zu erörtern und interdisziplinär zu erforschen und zu reflektieren.

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Kurzvitae der Autorinnen

Friederike Lorenz-Sinai ist Erziehungswissenschaftlerin, Sozialarbeiterin und Erzieherin. Sie ist Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung und Leiterin des Masterstudiengangs Childhood Studies and Children’s Rights an der Fachhochschule Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen (sexualisierte) Gewalt in Institutionen und deren Aufarbeitung, Schweigen als soziale Praxis, Antisemitismus im Bildungswesen und Bildung zur Shoah.

Marina Chernivsky ist Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Sie forscht u.a. zu transgenerationaler Weitergabe von Trauma, zu Antisemitismus, Bildungswesen und antisemitismuskritischer Bildung. Sie ist Leiterin des von ihr gegründeten Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der ZWST e.V. sowie Gründerin und geschäftsführende Vorständin von OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Seit 2107 ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart.

 

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© Foto Marina Chernivsky: Benjamin Jenak (Veto Magazin) | Titelbild sowie Foto Friederike Lorenz-Sinai: Marina Chernivsky